Bernhard Butzin, Jörg Kohlscheen, Raimund Pahs (2017)

Bildung im Wandel: Chancenungleichheit und Bildungspotenziale im Ruhrgebiet – eine Spurensuche

Dieses Teilprojekt der „Wege zur Metropole Ruhr“ versteht sich als eine auf qualitativen Interviews von Lehrern und Schulleiterinnen basierende Ergänzung der quantitativen Studie. Dabei stehen Fragen nach den Bildungschancen und -ungleichheiten im Ruhrgebiet, besonders aber nach den Mobilisierungspotenzialen im Vordergrund. Fachkräftemangel wird gerade im Ruhrgebiet zu einer zunehmenden Herausforderung für viele Betriebe. Wenn – so die Hauptthese – die seit vielen Jahrzehnten offenbar unaufhebbare, gerade in den deprivierten Sozialräumen sich verschärfende Bildungschancen-Ungleichheit nicht bewältigt wird, so werden die an der Ruhr dringend benötigten regionalen Bildungspotenziale nicht mobilisierbar sein. Eine nachhaltige, d.h. durch proaktive (vorausschauende, nicht reaktive), auf Dauer gestellte Wandlungsfähigkeit, somit eine zukunftsfeste Regionalentwicklung, wird so im Kern behindert.

Mobilisierungspotenziale lassen sich vornehmlich in den Grundschulen der deprivierten Standorte finden. Sie stehen im Vordergrund der Studie. Kontrastierend wird aber auch der Wandel im weiterführenden Schulsystem untersucht.

Die Hauptfragen lauten:

  • In welchen Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen entfalten sich Bildungschancen-Ungleichheiten sowie zugehörige Bildungspotenziale im Ruhrgebiet?
  • In welchen (Wechsel-) Bezügen stehen dazu Erziehung und Bildung in der alltäglichen Schulpraxis?
  • Lassen sich Bildungspotenziale mobilisieren – und wenn ja, wo und wie?
  • Welches sind die Gelingens-, Stör- und Hinderungsfaktoren?

Dieser erste Teil ist vornehmlich auf die Grundschul-Praxis in Problemgebieten gerichtet, wobei andere Schultypen in nicht deprivierten Lagen zum Vergleich herangezogen werden.

In einem zweiten Teil sollen langfristige Wandlungsprozesse über 30 oder mehr Jahre schulberuflicher Praxis über alle Schultypen in kontrastierenden sozialräumlichen Lagen erfasst werden.

  • Wie verändert sich der schulische Alltag?
  • Mindern oder verfestigen sich Bildungschancen-Ungleichheiten?
  • Welche Gelingens- und Störfaktoren lassen sich bei der Mobilisierung von Bildungspotenzialen beobachten?

Im Ergebnis lassen sich verschiedene, empirisch gegründete Thesen fassen:
Für die Schule besteht in den benachteiligten Stadtteilen nicht die Aufgabe, Humanvermögen im Sinne einer gesellschaftlichen Daseinskompetenz zu vermitteln, sondern überhaupt erst die Bedingungen zu schaffen, die eine Beschulung möglich machen.

Die intensiven Bemühungen der Lehrerschaft – in der Selbstwahrnehmung »einziger Anwalt des Kindes« zu sein – werden in ihrer Wirkung konterkariert durch ein dichtes Netz von Hemmfaktoren. Das Potenzial an Mobilisierbarkeit und Minderung der Bildungschancen-Ungleichheit hält sich so in sehr engen Grenzen, obwohl genau hier rein quantitativ (»Familie findet unten statt!«) die größten, wenn nicht gar die einzigen nennenswerten, mobilisierbaren, aber nicht mobilisierten Bildungspotenziale liegen.

Die Wandlungsprozesse lassen sich im Überblick verstehen als Diskrepanz zwischen einerseits einer zu geringen Mobilisierung bei sich erhaltender, teils zunehmender Bildungschancen-Ungleichheit im deprivierten Grundschulsegment (Teilsystem A) und andererseits zu der mobilisierenden, stärker Chancen optimierenden Dynamik im weiterführenden Bildungssegment (Teilsystem B).

Die aufwändigen Wege und Ziele der Problemlösungen sind bekannt, in der Praxis experimentell erprobt, aber systematisch in ein zu enges Korsett personeller und finanzieller Ressourcen gezwängt. Das wird seit Jahrzehnten be-
obachtet, eine Abhilfe ist nicht in Sicht. Wirken hier ruhrgebietstypische »leere Kassen« und »Systemrationalität« in die gleiche Richtung?

Die Systemrationalität hat sich im Laufe der Untersuchungszeit von – stark verkürzt – eher humanistischen (gesellschaftlichen und Selbst-) Entfaltungszielen hin zu einem Primat ökonomistischer Orientierung gewandelt. Das betrifft nicht nur die Wertehaltungen der Schüler/innen selbst, den zunehmenden Wettbewerb der Schulen um Eltern und ihre Kinder sowie manche unternehmensgesponserten Lehrmaterialien und Projekte, sondern auch die karriereorientierten Ziele der Eltern, Schulen und Schüler. Welche z.B. sozialen Kompetenzen werden angesichts der anstehenden „großen Transformation“ der Gesellschaftssysteme und der abnehmender Halbwertszeit von Wissensbeständen benötigt?

Die These erscheint naheliegend, dass die Diskrepanz der Bildungschancen-Ungleichheit und der Mobilisierungserfolge in den Teilsystemen durchaus systemfunktional ist. Dies erfüllt eine wichtige Funktion: Erst in dieser Filterfunktion wird dem Teilsystem der weiterführenden Schulen ihre volle Funktionalität ermöglich: eine optimale und optimierbare Systemleistung der gesellschaftlichen und vor allem ökonomischen Anforderungen an Bildung gerecht zu werden: Der Prozess der Selektion und Segregation erfüllt die notwendigen Voraussetzungen dazu. Denn ohne ihn dürfte das weiterführende Teilsystem nur suboptimal, eingeschränkt und mit erheblichen Reibungsverlusten den durchaus fragwürdigen Zwecken gerecht werden können.